Einmal Fehler rot-weiß, bitte!

Es mag an meiner Lebensphase liegen (ich gehe hart auf die 30 zu…), dass die Emanzipation von Abhängigkeiten, systemischen Zwängen und gesellschaftlichen Erwartungen seeehr weit oben auf meiner Liste steht. Gleichzeitig sehe ich, wie viele Leute unter Bevormundung, vorauseilendem falschem Gehorsam und „Double Binds“ leiden. Ganz besonders Kinder, Ältere und andere Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen. Wenn ihr euch wiederfindet, bitte nutzt die Kommentare – mich würden eure persönlichen Geschichten dazu sehr interessieren. (Auch von meiner Seite ist zu dem Thema noch lange nicht alles gesagt.)

Edit: Stromzufuhr ist kürzlich auch auf das Thema eingegangen und hat eine sehr süße Fehler-Geschichte zu erzählen :)


tl;dr: Bitte lasst euch und euren Kindern/Partnern/Freunden den Raum, eigene Fehler zu machen!


Ich fang einfach mal ganz groß an: Freiheit.

Freiheit bedeutet für mich, überall dort, wo es um das eigene Wohl, die eigenen Handlungen, die eigenen Konsequenzen geht, frei entscheiden zu können, also ohne die Angst vor sozialen oder anderen Sanktionen – oder gar direkter Gewalt. Das schließt auch ein, das eigene Wohl aufs Spiel zu setzen und Dinge zu tun, bei denen schon vorher klar ist, dass sie schlechte Konsequenzen nach sich ziehen. Aufhören muss die eigene Freiheit möglichst da, wo sie die Freiheit anderer einschränkt. So weit, so einfach.
(Und weil ich so gerne zehn weitere Aspekte in Klammern aufmache, noch eine Zusatzbemerkung: Da so ziemlich alles was wir tun auch die Freiheit anderer beeinflusst, ist das Ziehen einer eindeutigen Grenze zwischen „dein Tanzbereich – mein Tanzbereich“ oft schwer bis unmöglich. Die einen mögen es für ihre Freiheit total wichtig finden, in Restaurants rauchen zu dürfen, die meisten aber werden mittlerweile zustimmen, dass das die Gesundheit der Menschen um sie herum schon zu stark einschränkt. Diese Grenzen können wir nur in der Interaktion immer wieder miteinander verhandeln und neu setzen. Und dabei hoffen, dass nicht immer der lauteste, sondern hin und wieder auch der sinnvollste Vorschlag durchkommt.)

Nach dieser Einleitung könnte ich jetzt auch super wichtige Fälle internationaler Politik verhandeln, aber ich bin weder Journalist noch hab ich Ahnung. Aber so große philosophische Ideen wie Freiheit sind nicht nur im großen Rahmen wichtig, sondern auch im ganz Kleinen, ganz Privaten. Und ich würde fast sagen, vor allem dort, denn da beginnen schließlich all die Probleme, die später zu den großen beitragen.
Ein gutes Beispiel aus dem Alltag ist die gerade wieder neu entstandene Generation der Helikopter-Mütter und -Väter, die ihren Kindern den ganzen Tag erzählt, wie einzigartig und toll sie doch seien, sie vor allen Gefahren schützen will und jede Erfahrung zu machen zwingt ermöglicht, die gut im Lebenslauf aussieht. Die Absichten sind ja sicher oft ehrbar und liebevoll, nur leider bewirkt ihr genau das Gegenteil, liebe Heli-Eltern. Eure Kinder mögen Abitur machen und mit schlechtem Englisch einen Abschluss in BWL, um dann einen lebenzehrenden Job im mittleren Management auszuüben (Da isse wieder, die Polemik. Hach.), aber sie werden auf diesem Wege sicher keine selbstständigen, selbstsicheren, selbst denkenden Teile einer demokratischen Gesellschaft. Nicht, wenn sie sich nicht vorher freischwimmen und die dafür nötigen Erfahrungen selbst ermöglichen, jedenfalls. Wie soll ein Kind, dass niemals vor Probleme gestellt wird, zu denen es ganz allein Lösungen finden muss, jemals ein wirklich eigenständiges Leben führen? (Ist ja ohnehin schöner, wenn die Kinder immer von Mama abhängig bleiben, nech?) Wenn ich aus Angst vor Verletzungen nie einen Hammer benutzen darf, wie soll ich jemals ein Bild aufhängen oder etwas reparieren? Wenn ich niemals über Tod und Gewalt reden oder gar nachdenken darf, wie soll ich später mit diesen Phänomenen umgehen können, wenn sie mir unweigerlich begegnen? Wenn ich die Regeln, die meinen Alltag als Kind bestimmen, nie mitgestalten durfte, warum sollte ich dann später Engagement dafür aufbringen oder auch nur Interesse daran zeigen, die Regeln unserer Gesellschaft gemeinsam zu gestalten?
Genau das Gleiche gilt für romantische Beziehungen, Freundschaften, berufliche und eigentlich alle anderen Arten von sozialen Beziehungen. Lasst euch ausprobieren, lasst euch gegenseitig Fehler machen. Und wenn ihr für jemanden die Verantwortung tragt, dann sorgt für einen Rahmen, in dem diese Person Fehler machen und aus ihnen lernen darf – und trotzdem vor den wirklich schlimmen (= unwiderruflichen) Konsequenzen geschützt wird.

Fehler sind wichtig. Fehler sind der einzige Weg, aus Ausprobieren Wissen und Fähigkeiten zu machen. Fehler und was wir aus ihnen machen ist, was unsere Persönlichkeit formt und die Möglichkeiten schafft, die wir später haben, unser Leben zu gestalten, wie es uns am meisten entspricht. Ich würde soweit gehen, zu sagen: Wer niemals Fehler machen darf, entwickelt keinen Charakter, kein Rückgrat. Die Lösung? Möglichst früh möglichst „ergiebige“ Fehler machen.

Zufällig weiß ich leider, wovon ich rede. Ich bin in einer zwar sehr liebevollen, aber quasi konsequenzlosen Umgebung aufgewachsen. Oder passender gesagt in einer Umgebung, die ziemlich widersprüchliche Signale über die Konsequenzen meiner Handlungen sendete und mich dann nicht testen ließ, welche denn nun eintrifft. Vieles, was ich hätte lernen sollen, von so trivialen Dingen wie Aufräumen oder Kochen bis hin zu gesellschaftlicher Teilhabe, Mut, Ehrlichkeit, Aushalten von sozialen Spannungen – das alles habe ich viel zu spät gelernt und erst in Zeiten, in denen wirklich viel davon abhing. Und es gibt noch so vieles zu lernen, das anderen Menschen in die Wiege gelegt zu sein scheint.
Und auch wenn es weh tut, das einzugestehen: Ebenso kenne ich natürlich auch die andere Seite. Die, die widersprüchliche Signale sendet, keinen Raum für Fehler und persönliche Entfaltung lässt und stattdessen – platt gesagt – faul, unwissend und machthungrig ihre eigenen Erwartungen auf andere projiziert. Ich kann mich nur immer wieder zur Besinnung rufen und ganz streng angucken. Fehler sind gut. Man braucht Freiraum für die wichtigen Fehler. Erleben lassen statt predigen oder bewerten. Geduld. Akzeptanz.

PS: Apropos noch nicht alles gesagt: Natürlich führt nicht nur Überbehütung zu wenig Möglichkeiten, Fehler zu machen, sondern auch das Gegenteil. Wenn man durch ein prekäres Lebensumfeld keinen sicheren Raum hat, sich auszuprobieren, hat man ebenso wenig Gelegenheit, zu lernen und zu wachsen – wenn auch in ganz anderen Bereichen. Vor allem, weil ohne diese Sicherheit jeder Fehler auch einfach der letzte sein kann, drastisch gesagt.

4 Gedanken zu “Einmal Fehler rot-weiß, bitte!

  1. Toller Text. Nur bei der Passage mit dem, „….ich gehe hart auf die 30 zu…..“ musste ich ein wenig schmunzeln. Kaum ist man Mitte irgendwas, schon geht man hart auf irgendwas zu. Genau so hätte ich das damals auch geschrieben, und genau so empfinde ich es natürlich auch heute, soll heißen, natürlich gehe ich stark auf die…nu ja, mittlerweile bin ich in einem alter, da schweigt man bezüglich der nächsten Null die da kommen mag. :D Ein sehr erfreulicher Text. Desto weniger Abhängigkeiten es gibt, desto mehr Möglichkeiten gibt es einander zu lieben, einander zu mögen und einander zu gern zu haben. Loslassen ist ein integraler Bestandteil des Miteinanders. Man sollte den Menschen immer das Gefühl geben zu einem kommen zu können, wenn sie mögen. Genau so sollte man ihnen immer genügend Luft zum Atmen lassen, denn nur dann haben sie Lust wieder zu kommen und um Rat zu fragen. Und wenn Menschen das Bedürfnis haben gerade eben diesen Menschen um Rat zu fragen, dann hat dieser Mensch ziemlich viel richtig gemacht, wie ich finde.

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  2. Ja! Ja! Ja!

    Ich hatte das Glück, in einer Familie aufzuwachsen, die mir Freiheit und die damit verbundenen Verantwortungen ermöglicht haben. Und kann immer nur den Kopf schütteln, wenn mir anderes begegnet.
    Wenn man möchte, dass die eigenen Kinder gut durch die Welt kommen, ist die Befähigung zur Selbstständigkeit meiner Meinung nach, der einzige Weg.
    Aber ich darf das nicht sagen, ich bin kinderlos und Kinder scheinen sehr aufwändig in der Produktion ^^

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